WERKRAUM. Kunstlandschaft Pritzen
Fast 60 Jahre lang wurde in unmittelbarer Umgebung von Pritzen, einem Dorf in der
Niederlausitz, Braunkohle gefördert. Auch Pritzen mit seiner mittelalterlichen Feldsteinkirche
sollte bis 1995 weichen und war längst zu einem Industrieort mit Gleisanschluss,
Verladerampen, Werkstätten und Maschinenstationen geworden. Fast alle Einwohner hatten
das Dorf verlassen, die wertvolle Kirche war Stein für Stein abgetragen. Rund drei Viertel aller
Häuser waren bereits abgerissen, die Gärten verwilderten, als 1992 die Entscheidung fiel: Der
Tagebau wird gestoppt. Das geschundene Rest-Dorf sollte auf einer Landzunge im
entstehenden Altdöberner See weiterleben.
Einige wenige Menschen besiedelten das Dorf neu. Die Werkskantine wurde zum Bürgerhaus.
Auch einen Kirchturm erhielt Pritzen wieder: Der über 500 Jahre alte hölzerne Glockenturm
des devastierten Dorfes Wolkenhain wurde hier neu aufgebaut. In Europabiennalen
beschäftigten sich in den 1990er Jahren international bekannte Land-Art-Künstler mit dem
verlassenen Industriestandort, setzten starke Zeichen in die verwüstete Landschaft, die den
Raum bis heute nachhaltig prägen. Im Rahmen der Internationalen Bauausstellung (IBA) FürstPückler-Land wurde Pritzen von 2000 bis 2010 als Kunstlandschaft bearbeitet. Der
Zweckverband Lausitzer Seenland Brandenburg (LSB) beplante in den letzten Jahren die
Uferbereiche des entstehenden Altdöberner Sees unter den Schwerpunkten Kunstlandschaft
/ Landschaftskunst / Kultur am Wasser / Natur und Ruhe als Entwicklungsraum im Lausitzer
Seenland. Zahlreiche Bewohner Pritzens halten bereits Ferienwohnungen für zukünftige Gäste
vor. Durch das erfolgreiche Wirken einer breit aufgestellten Bürgerinitiative konnte der See
2015/16 vor einer Nutzung als Eisenhydroxydschlamm-Deponie bewahrt werden. Die Dörfer
um den See fanden dabei wieder enger zueinander. Nur noch wenige Menschen arbeiten
vor Ort, zahlreiche Bewohner pendeln zum Arbeiten nach Berlin, Dresden und Cottbus.
Raumpioniere siedelten sich an und erprobten neue Arbeits- und Lebensformen zwischen
Stadt und Land. Im Verein Kunstlandschaft Pritzen e.V. versammeln sich diese innovativen
Protagonisten. Sie bewahrten eine der größten Durchfahrtsscheunen der Region vor dem
Abriss und setzen sich seit 20 Jahren mit Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft dieses
Altindustriestandortes im Rahmen vielfältigster Aktivitäten auseinander.
Die Natur hat sich in den letzten Jahrzehnten den Landschaftsraum zurückerobert. Die
verwilderten Gärten Pritzens werden zunehmend überwuchert und verschwinden als
Charakteristikum des Ortes.
Der hölzerne Glockenturm verfällt, das Dorfgemeinschaftshaus
steht seit 6 Jahren bei laufenden Kosten weitgehend leer und soll privatisiert werden. Der
Altdöberner See wird in den nächsten Jahren seinen Endflutungsstand erreichen, aber auf
absehbare Zeit nicht aus dem Bergrecht entlassen. LMBV und LSB haben dennoch mit der
Gestaltung der Uferbereiche gemäß eines Masterplans begonnen.
Bis 2022 wird Pritzen schnelles Internet erhalten. Neue Akteure entdecken die Potentiale des Landschaftsraums.
Über 20.000 qm Bauland stehen im Dorf noch immer für eine Neubebauung zur Verfügung,
die gültige Bauleitplanung stammt jedoch aus den frühen 1990er Jahren.
Einige hölzerne LandArt-Objekte sind, der Intention ihrer Schöpfer gemäß, an die Natur
zurückgefallen, die Zukunft der verbliebenen Kunstwerke bedarf einer Bestandsaufnahme.
Die Anfänge der Kunstlandschaft Pritzen liegen in den frühen 1990er Jahren, in einer Zeit, als im Osten Deutschlands vieles, vielleicht alles neu gedacht wurde und der berühmte Zauber des Anfangs auch und gerade in der Lausitz, im einstigen Energiebezirk Cottbus, seine Wirkung entfaltete. In der vom Energiehunger der DDR aufgewühlten Landschaft sahen und artikulierten einige bewegte Bürger die Idee von der Kulturlandschaft Niederlausitz, auch um der Heimat eine andere Perspektive zu geben als die einer Kohleregion. Dafür bewarb man den Gedanken eines Symposiums für Landschaftskunst, das die Problematik der Naturzerstörung mit dem kreativen Nachdenken verbinden könnte, wie ein Ausweg aus dieser menschengemachten Sackgasse vorstellbar sei. Im ersten Jahr des wiedervereinigten Landes standen die Sterne sehr gut für solche Fragen. Nicht nur das Interesse der Gesellschaft bis hinein in die Politik und den Bergbau selbst, der im sich vereinigenden Deutschland um neue Rechtfertigung bemüht war, stellte sich als riesengroß heraus. Auch die Bereitschaft, ein solches Vorhaben finanziell zu unterstützen, war in bemerkenswertem Maße vorhanden. Als dann auch noch von der Europäischen Union eine Projektförderung auf dem Tisch lag, organisierte der Förderverein Kulturlandschaft Niederlausitz im Sommer 1991 in Windeseile mitten im Tagebau Cottbus ein 8-wöchiges Kunstevent, dessen Ergebnisse am finalen Wochenende atemberaubende 8000 Besucher sehen und erleben wollten. Der Erfolg und die europaweite Ausstrahlung des Symposiums überzeugten die Beteiligten, dass dies nur der Anfang sein konnte für ein sich international verstehendes wiederkehrendes Festival. Die Biennale-Idee war geboren. Und zur Idee gesellte sich der ideale Ort. Denn in diesem Moment des Prozesses wurde ein Tagebau stillgelegt, der als Ort überdeutlich das bereitstellte, was eine LandArt-Biennale brauchte. Räume, Formen und Themen. Das Dorf Pritzen inmitten des Tagebaus Greifenhain wurde zum Synonym für LandArt. In die Stille nach dem Ende der Kohlebagger und vor dem Neustart für die Landschaftsinsel, in die Zumutung einer ausgebeuteten und entwässerten Landschaftswüste gingen Künstler mitten hinein und stellten lange nicht gestellte Fragen, kreierten stumme Schreie des Entsetzens und markierten Zeichen der Heilung. Zwei Biennalen 1993 und 1995 hinterließen 23 Objekte, deren Schicksal es sein sollte, sich von der Zeit und der Natur überwältigen zu lassen. Die Mehrzahl ist bereits verschwunden, da verwitternde Materialien benutzt oder eine Aufstellung im mittlerweile zum See angeschwollenen Tagebau-Restloch gewählt wurde. Andere sind noch auffindbar, jedoch nach 25 Jahren von neuem Leben überwachsen. Von vielen Landschaftseindrücken, die die Künstler damals inspirierten, sind nur noch fotografische Erinnerungen zu finden. Aus der Landschaftswüste ist ein fruchtbarer Garten an einem tiefen, kühlen See geworden. Auf seinem Grund liegt das vom dänischen Künstler Mikel Hansen geschaffene ‚Kreuz des Südens’, das das Wasser zwar bedeckt, seine Botschaft jedoch, den Blick nach Pritzen zu wenden, auf diesen Ort zu schauen, bis heute wichtig und zu spüren bleibt. Haben doch Blaue Kreuze 2016 den See vor Plänen geschützt, ihn zur Deponie zu machen. Das Vermächtnis der Kunst ist immer noch auffindbar. So an der ‚Gelben Rampe’ von Hermann Prigan, wo die Aussichtsplattform über dem See mittlerweile über einen respektvollen Umgang mit der Landschaft wacht. Oder am ‚Sumpf’ von Nils Udo, dessen Bestimmung sich in vielen Jahren verändert hat vom Ort der Erneuerung der Natur zu einer archaisch anmutenden Landmarke an der Spitze. Die ‚Arche’ von Pit Kroke wurde um einige Meter verschoben, wird aber noch lange die Hoffnung der Menschen thematisieren, Unrettbares zu retten. Verloren sind die ‚Feurigen Köpfe’ von Klaas Kamphuis, Preisträger von 1995, wie auch die ‚Sechsfüssler’ von Albert Huber. Sie waren die genialen Begleiter der Pritzener, als die Wiedererrichtung des Dorfes nach dem Ende der Kohle mit großem Enthusiasmus, aber auch großer Unsicherheit in Angriff genommen wurde. In den Wäldern um Pritzen kann man die ‚Partitur’ von POST ARS aus Litauen finden, die auf dem damals unbeschriebenen Landschaftsnotenblatt eine zarte Melodie komponierten. Nicht mehr auffindbar sind die Landschaft und das Kunstwerk von Hiroshi Teshima, der ein Zeitfenster nutzte, um einen Eingang zur Landschaftsinsel Pritzen zu markieren. Die ‚Gefesselten Steine’ von Solveig Bolduan, vom Eis aus dem Norden herangeschafft und von Baggern an die Oberfläche gezerrt, haben ein neues Versteck im Hinterland des Sees gefunden. Ganz in der Nähe von Eberhard Krügers ‚Grünem Dom’, dem streitbaren Versuch, den Menschen, der Natur zerstört, als Menschen, der Natur erschafft, zu denken.
„2021 steht bei Kulturland Brandenburg die Industriekultur im Fokus des Themenjahres. Gemeinsam mit über 40 Partner'*innen beschreiten wir neue Wege und zeigen im gesamten Bundesland zukunftsweisende und überraschende Projekte, die wir ab Januar 2021 auf unserer Website, in unserem Programmheft, in unserem Onlinekalender und auf unseren Social Media Kanälen vorstellen werden.
Der Begriff Industriekultur stand bisher hauptsächlich für die Auseinandersetzung mit der Kulturgeschichte und der Kulturlandschaft des Industriezeitalters. Das Themenjahr „Zukunft der Vergangenheit – Industriekultur in Bewegung“ wagt den Versuch eines Updates, bei dem es nicht länger nur um einen erhaltungsbemühten Rückblick, sondern insbesondere auch um eine industrielle Zukunftsperspektive gehen soll. Während die Industrie im traditionellen Gewand im Alltag der Menschen kaum mehr eine Rolle spielt, setzt sich die Industrialisierung mit beschleunigtem Tempo fort. Brandenburg ist schon längst zu einem Industrieland 4.0 geworden. Mit dem Themenjahr 2021 setzt Kulturland Brandenburg kulturelle Impulse, denn nicht nur die Industrie steht für clevere Ideen und nachhaltige Konzepte. Die künstlerischen und kulturellen Projekte, die im gesamten Land umgesetzt werden, zeigen, wie kreativ, anpassungsfähig, interdisziplinär, stilbildend und identitätsstiftend die Kulturakteure und Kunstschaffenden in Brandenburg wirken können. Die Projekte des Themenjahres 2021 setzen sich mit vier Schwerpunktthemen auseinander.“
Der WERKRAUM. Kunstlandschaft Pritzen findet zu folgendem Schwerpunkt statt: „Pioniere – Zukunft aus der Provinz Die Folgen des Strukturwandels werden heute nicht nur in der Lausitz sichtbar. Abseits der boomenden Metropole Berlin setzte die industrielle Entwicklung beträchtliche Wachstumsdynamiken frei. Heute wirken viele der alten Industriestandorte wenig einladend. Arbeitsplätze fehlen, Bus- und Bahnlinien wurden stillgelegt und die Digitalisierung kommt nur 8 schleppend in Gang. Diese strukturellen Schwächen halten innovative Protagonist*innen nicht davon ab, die Chancen und Möglichkeiten vor Ort zu nutzen. Gerade in der Peripherie arbeiten die Menschen aus den unterschiedlichsten Bereichen vereint an neuen Methoden der Wertschöpfung, an der Etablierung kreativer Ankerpunkte und an einer vielfältigen regionalen Identität.“ Eigendarstellung Internetseite www.kulturland-brandenburg.de